Thursday 16 May 2013

Brachiale Erneuerung in Istanbul

reblogged from NZZ

Wem gehört die Stadt?

Malerisches Chaos – bereits seit 73 Jahren überquert die immer stärker unter dem Verkehr ächzende Atatürk-Brücke das Goldenen Horn.
Malerisches Chaos – bereits seit 73 Jahren überquert die immer stärker unter dem Verkehr ächzende Atatürk-Brücke das Goldenen Horn. (Bild: Martin Roemers / Laif)
Eine massige Metro-Brücke über dasGoldene Horn stört den Blick aufs Stadtpanorama, der Taksim-Platz wird umgekrempelt, bald soll eine protzige Moschee vom Camlica-Hügel grüssen: Die AKP-Regierung hat Istanbul ein Modernisierungsprogramm verschrieben, das mit brachialen Mitteln umgesetzt wird.
Veronika Hartmann
«Ich bin Ihr Diener, und mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie eine Brücke über das Goldene Horn zu bauen wünschen, doch niemanden finden können, der das kann. Ich bin Ihr Diener und weiss, wie es geht.» Diese Zeilen hat kein Geringerer als Leonardo da Vinci anno 1502 an den osmanischen Sultan Beyazit II. gerichtet, sie finden sich noch heute in türkischer Übersetzung in den Akten des Topkapi-Palasts. Warum da Vincis Entwürfe niemals verwirklicht wurden, ist nicht bekannt.
«Hätte er nur», mag es dem einen oder anderen heutzutage entfahren. Denn demnächst wird eine Metro-Brücke über besagtes Gewässer fertiggestellt werden, die bei den Istanbulern wenig Begeisterung hervorruft. Sie verbindet die ältesten Stadtviertel miteinander, nämlich Galata und Eminönü. Hoch oben ist sie und wird von einer Drahtseilkonstruktion getragen. Statt sich sanft in die Stadtsilhouette einzuschmiegen, verdeckt sie den Blick auf die historische Halbinsel mit Topkapi-Serail, Hagia Sophia und Süleymaniye-Moschee. Auch die Unesco, die bereits 1985 das gesamte Areal zum Weltkulturerbe ernannt hat und nun über dessen Schutz wacht, zeigte sich bei der letzten Begehung Ende letzten Jahres beunruhigt. Den Bericht dazu erwartet man in diesen Tagen.

Irreversibler Fehler

Der Architekt Ali Ulvi Altan, der als Projektleiter mit dem Bau der Brücke betraut ist, beteuert, dass die Unesco sich von dem Projekt habe überzeugen lassen. «Es ist ja noch nicht fertig, mit etwas Farbe und Beleuchtung kann man da noch einiges machen.» Eine Alternative hat es in seinen Augen nicht gegeben. «Das Problem besteht darin, dass wir an diese Route gebunden waren. Die einzig sinnvolle Lösung wäre natürlich eine andere Streckenführung gewesen, aber darüber wurde bereits in den 1980er Jahren entschieden. Damals war Denkmalschutz noch kein Thema», erklärt Altan. Da die Tunnel, die zur Anbindung an das Streckennetz der Metro notwendig sind, bereits in den neunziger Jahren gegraben worden waren, wollte die Stadt aus Kostengründen vom überalterten Plan nicht abweichen. Ohnehin hatte das Amt für Denkmalschutz bereits ein Dutzend Entwürfe abgelehnt, der jetzt umgesetzte war der einzige, der den behördlichen Segen erhalten hat. Massgeblich daran beteiligt gewesen sein soll übrigens kein Geringerer als der Istanbuler Oberbürgermeister und Architekt Kadir Topbas, auch wenn unter dem Entwurf offiziell der Name seines Kollegen Hakan Kiran steht.
Doch die Brücke ist nicht der einzige Streitpunkt, denn Istanbul gleicht einer Grossbaustelle. Die Strassenführung am zentralen Taksim-Platz wird unter die Erde verlegt, die bisherige Grünfläche zu einem Einkaufszentrum umgewandelt. Der Bosporus wird untertunnelt und ein weiteres Mal überbrückt. Weil eine Verbindung unter dem Bosporus bereits der Traum des Sultans Abdülmecid im Jahr 1860 war, soll noch vor der Fertigstellung des Marmaray-Tunnels mit dem Bau eines zweiten begonnen werden. Der ehemalige Hafen von Haydarpasa wird weichen und an seiner Stelle ein olympisches Stadion entstehen, der gleichnamige historische Bahnhof, der 2010 durch einen Brand teilweise zerstört wurde, soll als Hotel wie ein Phönix aus der Asche auferstehen. Camlica, einer der höchsten Hügel der Stadt und ein beliebtes Ausflugsziel, wird bereits in zwei Jahren von der grössten Moschee des Landes gekrönt, während ausserdem Europas grösstes Finanzzentrum und riesige Trabantenstädte aus dem Boden gestampft werden. Damit nicht genug, man nimmt Mass für einen neuen Bosporus, der Schwarzes Meer und Marmarameer einige Dutzend Kilometer weiter westlich erneut verbinden soll.
Natürlich darf auch der grösste Flughafen der Welt nicht fehlen. Es wird gegraben, aufgeschüttet und umgewühlt. Für den Bauboom, der an allen Ecken und Enden der Stadt die Bürger quält, gibt es verschiedene, auch sehr triftige Gründe. Zum einen erlebte die Stadt eine Bevölkerungsexplosion, wie man sie in vergleichbarem Umfang kaum findet. Während die Stadtväter in den 1980er Jahren noch mit rund 5 Millionen Einwohnern rechneten, sind es heute offiziell 12 Millionen. Dass diese Zahl viel zu niedrig gegriffen ist, zweifelt niemand wirklich an. Dazu kommen zum andern die unendlichen Ströme der Touristen, Besucher und Geschäftsreisenden. Und alle diese Menschen wollen nicht nur untergebracht, transportiert, ernährt und unterhalten werden, sie sind gleichzeitig dem hohen Erdbebenrisiko der Region ausgesetzt. Die Antwort auf diese Herausforderungen hält die Stadt in Form des Konzepts «Städtischer Wandel» bereit, eines grossangelegten Bauprojekts, in dessen Rahmen allein in Istanbul über 200 000 Gebäude abgerissen werden sollen. An ihrer Stelle sind moderne Wohngebiete geplant. «Und wenn es uns die Regierung kostet, das werden wir jetzt durchziehen!», versprach Ministerpräsident Tayyip Erdogan nach einem verheerenden Beben, das 2011 die Region Van im Südosten des Landes heimsuchte.
Als Folge werden nun in Istanbul ganze Stadtviertel wie das historische Sulukule oder das zentrale Tarlabasi entvölkert und die Anwohner, die oft zu arm sind, um sich zu wehren, enteignet und in Wohnsilos fernab ihrer alten Wohnstätten vertrieben. Die alte Bausubstanz wird komplett abgerissen, und es entstehen Luxuswohnungen und Büros, die Höchstpreise erzielen. Auf historisches Erbe, Denkmalschutz oder ausreichend Grünflächen wird nicht geachtet. Bereits jetzt gibt es nur noch durchschnittlich 3 Quadratmeter Grün pro Einwohner, in Europa sind 30 Quadratmeter Standard.

Kampf um Mitspracherecht

Nun mag es einerseits faszinieren, dass es den Baumeistern der Metropole vergönnt zu sein scheint, Grossprojekte so schnell umzusetzen wie in kaum einem anderen Land. Doch das hat seinen Preis, und diesen zahlen in Istanbul vor allem die Zivilgesellschaft, das historische Stadtgefüge und auch der Katastrophenschutz. Deswegen wünschen sich die Bürger eine Beteiligung an den Entscheidungsprozessen und auch einen Mindeststandard für die Raumplanung.
Nicht weit von der neuen Metro-Brücke über das Goldene Horn hat die Istanbuler Architektenkammer ihren Sitz. Er befindet sich im Stadtteil Karaköy, wo man den rasanten Wandel der Stadt gut beobachten kann. Was noch vor einem Jahrzehnt ein Hafenviertel mit Bordellen, Schiffsbedarf wie Ankern und Tauen sowie Elektroartikeln war, bietet heute immer mehr schicken Hotels und Cafés, Offices und Galerien Raum. Hinter einem Berg von Akten sitzt Mücella Yapici, Architektin und Aktivistin der Architektenkammer.
Für sie ist die Brücke nur ein Puzzleteil in der fehlgeleiteten Baupolitik der Stadt. Vor allem der Standort sei katastrophal gewählt, da gibt sie Altan gerne recht. Aber in ihren Augen sind die meisten Bauprojekte, die in Istanbul durchgeführt werden, durch nichts zu entschuldigen. «Das grösste Problem, das die Stadt hat, ist die Erdbebengefahr, Seismologen fürchten eine schwere Entladung der tektonischen Spannungen schon in naher Zukunft. Doch genauso schlimm ist nun die Bedrohung durch die Bausünden, die unter dem Vorwand begangen werden, die Stadt gegen eine bevorstehende Naturkatastrophe zu wappnen», erklärt Yapici. Denn wenn eine Gegend als Risikogebiet ausgewiesen ist, fallen die Auflagen des Denkmalschutzes weg. Laut Yapici trifft das auf 60 Prozent der historischen Halbinsel zu. «Schwer zu sagen, was mittlerweile schwerer wiegt. Zudem werden Grossvorhaben wie Brücken, Flughäfen, Tunnel von ganz oben entschieden. Vom Ministerium für Umwelt und Städtebau oder von Ministerpräsident Erdogan persönlich. Jede Epoche möchte sich eben verewigen und der Stadt ihren Stempel aufdrücken.»
Der öffentliche Raum wird also über die Köpfe der Bürger hinweg gestaltet. Sie haben keine Möglichkeit, eigene Vorstellungen und Ideen einzubringen – nicht einmal, wenn ihre eigenen Häuser oder Stadtviertel betroffen sind. Yapici, die im Namen der Architektenkammer gegen Bausünden zu klagen versucht, mit der Stadtverwaltung über Projekte diskutiert und bei Demos an vorderster Front für den Erhalt von kulturellem Erbe kämpft, freut sich, ein wachsendes Interesse der Bevölkerung an Fragen der Stadtentwicklung beobachten zu können. «Es haben sich Quartier-Initiativen gebildet, die sich jetzt auch untereinander vernetzen. Doch leider mangelt es in der Türkei an einer demokratischen Tradition. Hier hoffen die Menschen, dass ‹die da oben› schon richtig entscheiden werden. Abschreckend ist auch, dass friedliche Demonstrationen gegen die Zerstörung von Kulturgütern nicht selten von den Sicherheitskräften mit Tränengas und Wasserwerfern auseinandergetrieben werden.» Dennoch glaubt Yapici, dass immer mehr Menschen nicht länger tatenlos zusehen wollen, wie das Gesicht der Stadt verändert wird.

Zaudernde Unesco

Yapici kritisiert die zögernde Haltung der Unesco gegenüber dem von Stadt, Ministerium und Regierung praktizierten brachialen Umgang mit Istanbuls Kulturerbe und erklärt: «Seit 2006 tauchen die Brücke über das Goldene Horn, die Stadtteile Sulukule und Tarlabasi sowie die historische Halbinsel in allen Berichten der Unesco auf, und es wird damit gedroht, dass Istanbul den Status als Weltkulturerbe einbüsst. Aber passiert ist nichts, und ich persönlich glaube, dass sich durch die Globalisierung auch die Einstellung der Unesco geändert hat.» Nicht ganz so schwarz sieht das Brückenbauer Ali Ulvi Altan: «Ein Gutes hat die Brücke auf jeden Fall!», tröstet er. «Immerhin hat sie das Interesse der Menschen an ihrem kulturellen Erbe geweckt, sie setzen sich jetzt dafür ein und wollen, dass man es schützt.» Ausserdem gibt es bereits einen neuen Plan: Ein Stück weiter das Goldene Horn hinauf plant man den Bau der nächsten Brücke. Sie soll endlich so aussehen, wie Leonardo da Vinci es sich vorgestellt hat. Vom fernen Italien aus.

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